Mittwoch, 27. Juni 2018

Lappen rein und weiter gehts...




…weiter geht die Fahrt über einen Fünftausender und dann hinein in ein fantastisches Tal. Kennst du Filme über die extremsten Straßen der Welt? Nun, so ungefähr kannst du dir die Strecke vorstellen, die sich vor uns öffnet. 



Wow ... bloß nicht rechts runter schauen, denn da ist der Abhang. Ungesichert. Schmal, der Weg. Unbefestigt. Ab und an ist die halbe Straße weggebrochen und gleich müssen wir durch einen Wasserfall fahren. Unfassbar! Links geht die Steilwand hoch. Also konzentriert und mittig fahren. In diesen Momenten bist du mit dir alleine. Vollkommen gegenwärtig. Bewusst. Aufmerksam. Diese Momente sind der Grund, warum ich diese extremen Reisen unternehme. Du bist lebendig. Wirst eins mit dir, der Natur und deiner Maschine.

PENG! Plötzlich bekommt mein Motorrad einen gewaltigen Schlag von unten, bockt wie ein wildgewordenes Pferd und reißt mich in Richtung Abgrund. Im nächsten Sekundenbruchteil übernimmt mein Unbewusstes die Regie. Meine Erfahrung aus über einer halben Million Kilometer auf dem Motorrad übernimmt die Situation. Den Blick weg vom Abgrund! Wo willst du hin? Zum Berg. Blickrichtung beachten! Die Energie folgt der Aufmerksamkeit! Hände locker am Lenker. Der Blick lenkt, der Arsch folgt. Ich komme mittig auf dem Pfad zum Stehen. Mein Blick geht zum Abgrund. Ich nehme die Spur meines Vorderreifens wahr! Diese führt geradewegs an die Kante der unbefestigten Straße und haarscharf am Abgrund entlang! Ein paar Millimeter weiter und ...!

Ich nehme Ölgeruch wahr. Mein linker Stiefel wird heiß. Öl fließt aus der Maschine. Über meinen Stiefel. WTF? Keine Verletzung, ok. Aber Ölaustritt ist schlecht, sehr schlecht. Morgen geht es hoch auf den Kardung La, auf den höchsten befahrbaren Pass der Welt! Wir haben kein Ersatzmotorrad dabei! Was für ein Mist! Hey, Dieter, spricht eine Stimme in mir. Du bist am Leben. Könntest jetzt auch unten in der Schlucht liegen! Also ganz easy, schau einfach, wie es weitergeht. Du kennst das doch, du bist bis jetzt immer da hingekommen, wo du hinwolltest. Vertraue und bleibe in deiner Mitte! Ok? Ich bleibe kurz sitzen, schließe die Augen, lege die Hand auf mein Herz und werde gegenwärtig. Du lebst, bist mitten im Himalaja, sitzt auf deiner Maschine, atmest und fühlst das pure Leben! Das ist die Realität! Nicht deine Befürchtungen, nicht dein Wollen, sondern schlicht und einfach das, was jetzt ist. Das ist das Echte! Also, du bist inmitten dieser genialen, einmaligen Natur, die Sonne scheint, du lebst und spürst die Einmaligkeit deines Seins. Fühle. Atme. Geh in deinen inneren Tempel, an deinen Kern und sei aufmerksam und in Liebe. Ich steige ab und laufe zur Schlucht. Ok, das ist tief. Das hätte übel enden können. Ich bleibe stehen, lege nochmals die Hand auf mein Herz und erinnere mich an die Übung, die seit fast drei Jahrzehnten in meinem Leben und in meinen Seminaren ist und eine wichtige Rolle spielt. Ich gehe in meinen inneren Tempel, meinen inneren Kern. Nehme bewusst Verbindung mit meiner Seele auf. Ich bin der Kern im Kern, stehe in der Sonne und lebe! Danke! Das innere Gebet kommt wie von alleine. Währenddessen bleibe ich vollkommen ruhig. Kein Zittern, kein Adrenalinschub. Das kenne ich von mir in solchen Situationen.


Ich drehe mich um und nehme wahr, dass die anderen auf ihren Bikes sitzen und mich beobachten. Keiner spricht ein Wort. Wie lange stehe ich schon hier? Da kommt Ralf mit der Kamera angelaufen und schaut mich nur an, mit seinem „Ralfgesichtsausdruck“. Geht zur Schlucht, schaut runter, sagt „Hmpff - tief“, knipst ein Foto von der Reifenspur, kommt zu mir und meint: „Dein Schutzengel ist genial. Und gut, dass du so viel Fahrerfahrung hast. Bin hinter dir gefahren. Hast die Kiste gewaltig nach links geworfen. Das hätte übel ausgehen können!“ Du sagst es, Ralf, du sagst es, denke ich amüsiert. Ich gehe zum Bike. Hmm, ein Loch im Motor. Nicht gut, gar nicht gut. Unser Enfield-Spezialist kommt mit dem Begleitfahrzeug an, springt aus der Karre, die Werkzeugtasche schon in der Hand, lächelt dieses freundlichen Inder-Lächeln, wackelt mit dem Kopf, wie es nur die Inder können, und sagt:
 
„No problem!“
„No problem? The engine is broken.”
„No problem, wait a minute!”

Er schraubt das Motorgehäuse ab. Dieses hat ein riesiges Loch an der Unterseite. Ein Stein hat sich aufgestellt und mich ausgehebelt. Er nimmt einen Lappen, stopft diesen in das Loch und fixiert das Ganze mit einem stabilen Reparaturband. Dann öffnet er eine Tube und trägt dick eine ölige Paste auf das Motorgehäuse. Danach schraubt er es wieder dran, kickt die Maschine an und mit einem leichten Klappern bullert diese los.

„Ok!“, sagt er und lächelt mich fröhlich an.
„Ok? Are you sure?“, frage ich zweifelnd.
„Yes, drive away, have fun, it´s ok.”
„And tomorrow?”
„Yes, yes, it’s ok. Drive and have fun.“


Mit dieser, in meinen Augen notdürftig zusammengeflickten Maschine sollte es am nächsten Tag auf den höchsten befahrbaren Pass der Welt gehen? Aber, so einer Royal Enfield macht es nichts aus, wenn da ein bisschen Öl aus dem Motor fließt. Lappen rein, Tesaband drüber, ein bisschen Schmierpaste drauf und weiter geht es. Einfach unglaublich! Denn das sei schon einmal vorweggenommen: meine Enfield hat durchgehalten, ganz im Gegensatz zu einigen anderen Bikes.

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